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Überwiegend heiter bis wolkig |
02
April
Energiefluss
Vor vielen Jahren begann meine Reise in meine Vergangenheit. Wissbegierig war ich schon immer - wollte verstehen - wollte fühlen. Die Schule konnte mir diese Freude am Lernen nie nehmen. So komme ich mir auch in heutigen Zeiten des "verordneten Bildungshungers" immer noch vor wie ein Exot. Wahrscheinlich weil Lernen für mich keine "Arbeit" ist, sondern ein Bedürfnis. Bis auf wenige Ausnahmen wird meine Lernfreude mit einem Kopfschütteln quittiert - quer durch alle "Bildungschichten" (wie es heute so schön heißt). Die andere Reaktion ist ein "Ist doch gut." mit steifer Körperhaltung und einem mehr oder weniger gequälten Lächeln auf den Lippen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen es geht bei den Reaktionen weniger um das Lernen, als um meine Freude daran. Freude am Lernen und Bücher als Freunde. Meine Mutter, 1939 geboren, hatte die Schule als qualvollen Ort in Erinnerung. Von Stockschlägen berichtete sie. Auf die Hände. Eigentümlich war die emotionale Distanz ihrer Erzählungen. Als berichte sie von jemandem Anderen. Das Fühlen herunter geschluckt. Sich dabei verschluckt. Die Lebendigkeit verschluckt. Sie sprach von ihrem älteren Bruder. Meinem Onkel. Der durfte auf das Gymnasium. Sie erzählte von Nachhilfelehrern für ihn, die mit Spiegelei und Butterbrot entlohnt wurden. Davon, dass ihre beiden Brüder - einer älter - einer jünger ihr vorgezogen wurden. Von den Schlägen ihrer Mutter - meiner Oma. Der gleichen Oma, die mit mir nicht fertig wurde. Ich habe mich nicht einschüchtern lassen. So sah es jedenfalls aus. Ein starker Wille wurde mir angedichtet. Dabei war ich nur stur. Stur, verunsichert, traurig und ja neugierig. Lernbegierig. Meine Laufbahn endete vorläufig mit der Realschule - trotz Gymnasialempfehlung. Angeblich, weil mein Stiefvater schon genug für mich - sein nicht leibliches Kind - gezahlt hätte. Erst viel, viel später - nach Abschluss der Fachhochschule - begriff ich: es war klassische Eifersucht. Eine Eigenschaft, die mein leiblicher Vater ausgezeichnet habe. Und die Mutter meiner Mutter. Eifersucht auf die Aussicht, dass ich - die Tochter - ein eigenständiges Leben führen "dürfte". Ohne auf das Portemonnaie und Wohlwollen eines Mannes angewiesen zu sein. Diese Eifersucht, diese Erwartung habe in einzigartiger Weise gleichzeitig erfüllt, wie auch nicht erfüllt: Diplom ohne Abitur, Verheiratet ohne Heiraten zu müssen, Hausfrau mit eigenem Einkommen. (Einkommen aufgrund Erwerbsminderung wie es so schön heißt.) Es gab noch eine andere Eifersucht, die meine Mutter wahrscheinlich umtrieb: Sie hielt nicht das gute Verhältnis meines leiblichen Vaters zu mir aus. Ein Verhältnis, dass sie nie hatte - denn in ihren Säuglingsjahren war er im Krieg. So weit so verständlich - inzwischen. So neu - so alt das innere Wissen und Fühlen darum. Ich lernte meinen Vater vor ein paar Jahren kennen. Ein Original würde meine Mutter wohl sagen, wenn sie noch lebte. Ein Lebenskünstler, wie seine ehemaligen Kollegen voller Bewunderung sagten. Und wissbegierig sei er. Er lerne gern. Eifersüchtig - ja das ist er auf seine Weise: er kann es schwer ertragen, wenn ihm Aufmerksamkeit entzogen wird. Aber ist es denn ein Wunder. Was mag er auf der Flucht erlebt haben? Bei seiner Ankunft in Süddeutschland? An seine Mutter kann ich mich nur wenig erinnern: Entweder lag sie in einem abgedunkelten Zimmer im Bett oder sie machte mir in der Küche Nutellabrote - wie sie heute keinem Kind mehr vorgesetzt würden: das Brot daumenbreit geschnitten, eine gut sichtbare Schicht Butter darauf und mit einer Schicht Nutella mindestens zwei bis drei Mal höher als die Butterschicht .... Was diese Geschichte mit der Überschrift zu tun hat? Die Auseinandersetzung mit meiner Geschichte und der meiner Eltern (Großeltern lassen sich leider nur wenig, die der Urgroßeltern gar nicht mehr rekonstruieren) unter dem Kriegs(folgen)aspekt führt zu einer mir bisher nicht gekannten Stimmigkeit. Es ergibt Sinn. Ich verstehe. Kann nachfühlen. Da ist so viel Mitgefühl in mir. Soviel Trauer. Soviel Wut. Aber auch so viel Freude, die mit dem Unterdrücken der "negativen" Gefühle mit den Bach runter ging. Die Lebensenergie fließt wieder.
Ach, ich lese das alles, und ich lese so viele Parallelen. Ich könnte einzelne Ihrer Sätze zitieren und Ja!, Ja!, Ja! drunter schreiben. Aber das erspare ich Ihnen und mir. Vielleicht, wenn Sie Lust auf einen kleinen Exkurs haben, lesen Sie drüben bei mir "Daraus wurde nichts...". Denn in vielen, vielen Dingen geht es mir ganz genau wie Ihnen.
Mehr und mehr wird mir deutlich, dass es wichtig ist, Kenntnis und Klarheit über die Geschichte der eigenen Eltern zu erlangen. Es ermöglicht einem, Zusammenhänge zu erkennen und sich abzukoppeln von dem, was uns vor dem Zeitpunkt des Verstehens noch wie ein höheres Schicksal vorkam. Wieder einmal ist es schön, so einen Gleichklang im Text eines anderen Menschen zu entdecken, zumal dann, wenn man nicht aktiv danach gesucht hat, sondern viel eher davon gefunden wurde. Ein Wort zur Lernfreude: Die kann ich Ihnen nur sehr gut nachfühlen, denn auch mir geht es so. Natürlich habe ich meine bevorzugten Bereiche, ich vergrabe mich zum Beispiel nicht freiwillig in theoretische Abhandlungen über Atomphysik. Aber es gibt eigentlich wenig, was mein Interesse nicht weckt, und Neugier und Wissensdurst sind Eigenschaften, die ich mir immer bewahren möchte. Ich möchte einfach wissen. Abwägen können. Kennen. Auf dem Gelernten und Gelesenen dann selber weiterdenken. Hätte ich das nicht, dann würde mir ganz definitiv ein wichtiger Teil im Leben fehlen. Liebe Sturmfrau,
Lust auf den Exkurs habe ich - irgendwann die Tage. Im Moment bin ich nur müde. Es geschieht viel in diesen Tagen, was verdaut werden will. Der Austausch mit Ihnen tut mir gut. Vielleicht - wenn Sie Lust haben - auch per Mail. (Dann vielleicht auch mit einem Du.) Liebe Grüße Trivialis PS: Habe Ihnen hier nun geantwortet. Ich kann Ihre Müdigkeit gut nachvollziehen. Insbesondere dann, wenn sich innen viel bewegt, muss man sehr auf seine Kräfte achten. Daher ist mein Veweis auf den Exkurs jetzt auch nichts, dem Sie zwingend und dringend folgen müssen, sondern eine Einladung zum Lesen, der Sie selbstverständlich folgen können, wann immer Sie das möchten.
Meine Mailadresse finden Sie bei mir "zuhause" im Impressum, wenn Sie mögen. |